Istvàn Tatai, Kirche und Israel
Vom Suchen und Finden eines neuen Beziehungsmodells in der Theologie nach Auschwitz
Verlag für Theologie und Religionswissenschaft (VTR), Nürnberg 2017, 328 S. http://www.vtr-online.de/
Dieses Buch geht auf eine Dissertation zurück, welche der Autor 2008 in ungarischer Sprache der Theologischen Fakultät der Reformierten Universität Budapest vorgelegt hat. Als Pfarrer der ungarisch-reformierten Kirche hat Tatai die Umorientierung hinsichtlich der Beziehung „Kirche und Israel“ in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute ausführlich dargelegt und beurteilt – sowohl in den protestantischen Kirchen in Europa wie in der römisch-katholischen Kirche. Tatai nimmt zwei Auslöser für diese Neubesinnung wahr, die er als „neuzeitliches theologisches Erdbeben“ bezeichnet: Zum einen war dies die erschreckende Einsicht, dass die Kirchen in Theologie und Verkündigung in vielfacher Hinsicht dem Hass gegen das jüdische Volk Vorschub geleistet und somit eine erhebliche Mitschuld am Massenmord an den Juden Europas auf sich geladen haben. Zum andern war die Entstehung des Staates Israel wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für viele Vertreter der Kirchen ein Schock: Hatte man doch viele Jahrhunderte die Überzeugung vertreten, die Kirche sei das wahre Israel, nachdem Israel im ethnischen Sinne mehrheitlich die Messianität Jesu abgelehnt hatte. Nun aber war Israel zumindest als säkularer Staat auf die Weltbühne zurückgekehrt.
Der Autor zeigt sich zwei Persönlichkeiten besonders dankbar, die ihrerseits im theologischen Austausch standen. Dies ist einerseits Bertold Klappert, zuletzt tätig als Professor für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal, Herausgeber von „Umkehr und Erneuerung. Erläuterungen zum Synodalbeschluß der rheinischen Landessynode1980 ‚Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden‘“. Dies ist andererseits Michael Wyschogrod (verstorben 2015), eine prominente Stimme des orthodoxen Judentums in den USA, Gastdozent auch an protestantischen und katholischen Ausbildungsstätten.
Unter den zahlreichen Erklärungen zum Verhältnis der Kirche zum Volk Israel würdigt Tatai insbesondere den oben erwähnten Beschluss der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland. Unter den Gründen für einen theologischen Neuansatz wird dort der folgende genannt: „Die Erkenntnis, dass die fortdauernde Existenz des jüdischen Volkes, seine Heimkehr in das Land der Verheißung und auch die Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes gegenüber seinem Volk sind.“ Weiter wird dort erklärt: „Wir bekennen uns zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist und die Völker der Welt mit dem Volk Gottes verbindet… Wir glauben die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk und erkennen, dass die Kirche durch Jesus Christus in den Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen ist.“ Tatai erwähnt auch die Einwände, die aus der theologischen Fakultät der Universität Bonn erhoben worden sind.
Zusammenfassend formuliert Tatai beispielsweise den folgenden Kritikpunkt: „Die ‚Handreichung‘ macht keinen Unterschied zwischen den Juden des Alten Testaments und jenen der nachbiblischen Ära.“ Eine Bemerkung des Rezensenten: Unterschieden wird von der rheinischen Synode ebenfalls nicht zwischen orthodoxen und liberalen Juden, auch nicht zwischen im weitesten Sinne religiösen und atheistischen Juden, welche einen erheblichen Anteil des jüdischen Volkes weltweit stellen.
Ein weiterer Kritikpunkt aus Bonn, ebenfalls von Tatai zusammengefasst: „Es wird nicht klar gemacht, dass ‚jüdisch Sein‘ absolut keine Heilsgarantie ist, denn Gott vermag aus Steinen Kinder zu erwecken.“ Tatai erwähnt auch eine kritische Anfrage von Edna Brocke, engagiert im jüdisch-christlichen Dialog, insbesondere bei der Arbeitsgruppe „Christen und Juden“ beim Deutschen Evangelischen Kirchentag: „Sollte aus inneren oder äußeren Gründen dieser Staat (Israel) nicht überdauern – wäre das dann ein Zeichen der Untreue Gottes gegenüber seinem Volk?“
Der Zeitraum, den Tatai beleuchtet, reicht von einer Erklärung des Weltkirchenrats aus dem Jahr 1948 bis zu jener der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen (GEKE) aus dem Jahr 2001. Auf Grund der theologischen Neuorientierung im Blick auf das Verhältnis von Juden und Christen wurde an vielen Stellen ein Dialog möglich. Einwände aus der GEKE gegen die Voraussetzungen, auf denen der Dialog geführt wurde, fasst Tatai folgendermaßen zusammen:
„In der Frühphase des Dialogs verstanden viele den soteriologischen Weg Israels und der Kirche als zwei Parallelen. Der Gott Abrahams war für sie der gemeinsame Ausgangspunkt. Für die Juden ist der Heilsweg der Weg der Tora, und für die Nichtjuden ist er die Person Christi. Die „Zwei-Wege“-Theorie besteht darauf, dass beide Wege Gottes legitime Erlösungswege sind, die sich in ihrem Wert nicht voneinander unterscheiden. Für die Autoren ist diese Sicht an mehreren Punkten angreifbar… a) Die zwei Wege sind nicht völlig voneinander unabhängig, weil die Person Jesu sowohl mit Israel als auch mit der Kirche verbunden ist. b) Es muss bedacht werden, dass das Christentum im jüdischen Volk verwurzelt ist. In Wirklichkeit ist es ‚Produkt‘ des Judentums. Die ersten Menschen, die Jesus von Nazareth als ihren Messias bekannten, waren Juden, und dieses Phänomen wiederholt sich heute…“
Mit diesem „Phänomen“ meint Tatai das sog. messianische Judentum, das seit knapp fünfzig Jahren sowohl innerhalb wie außerhalb Israels als wachsende Bewegung zu beobachten ist. Tatai beschreibt diese auf 18 Seiten trotz aller Unterschiede auch in Kontinuität mit dem Urchristentum und dem Judenchristentum, welches im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überwiegend unter dem „Dach“ der protestantischen Kirchen zu Hause war. Tatai würdigt die messianische Bewegung folgendermaßen: „Diese Juden glauben an Jesus als den jüdischen Messias, und sie verkünden jetzt schon die künftige Wirklichkeit: ‚Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn.‘ Inwieweit kann die Existenz messianischen Gemeinden nach Mt. 23,38-39, Lk. 13,35 und Lk. 21,24 als eschatologisches Zeichen betrachtet werden? Die Tatsache, dass sich erstmals seit dem zweitem Jahrhundert in Jerusalem und dem Heiligen Land eine bedeutende Zahl jüdischer Gemeinden befindet, die an Jesus als ihren Messias glauben, verdient auf jeden Fall unsere Beachtung; mit wenigen Ausnahmen war dies in den vergangenen achtzehn Jahrhunderten praktisch unmöglich gewesen.“
Tatai geht auch ein auf die Bewegung „Toward Jerusalem Council II“ (TJCII), welche die „älteste Wunde der Kirche“ heilen möchte. „Ihr Ziel ist es, die sichtbare und theologische Einheit der jüdischen und nichtjüdischen Gläubigen, die zum Messias Israels, zum einen Leib Christi gehören, wiederherzustellen. Gemäss der kühnen ursprünglichen Vision“ würde dazu ein zweites Konzil in Jerusalem als Ergänzung zu dem in Apostelgeschichte 15 berichteten stattfinden. Unter Bezugnahme auf das paulinische Bild von den nichtjüdischen Gläubigen als eingepfropfte Zweige des „Ölbaums Israel“ würde bei einem solchen Konzil in Tatais Worten das Folgende geschehen: „Die überwiegend nichtjüdische Kirche tut Busse über ihrer antijüdischen Geschichte und empfängt und begrüsst ihre ‚älteren jüdischen Brüder‘… wie es einst ihre jüdischen Brüder während des ersten Konzils in Jerusalem mit den nichtjüdischen Brüdern getan hatten… Die Kirche würde also… im Geist des hohepriesterlichen Gebets in Joh 17 bewusst an der Verwirklichung von Eph 2,16 und 3,6 arbeiten.“ Diese Vision wird heute getragen von im weitesten Sinne protestantischen, römisch-katholischen und orthodoxen Christen einerseits und Vertretern der messianisch-jüdischen Bewegung innerhalb und außerhalb Israels andererseits. Tatai hat beobachtet, dass sich die Vision von TJCII in einem Wandel befindet: „Leiter der Bewegung… sprechen nun von gegenseitiger Anerkennung und nicht von einer Begrüssung im umgekehrten Sinn der Apostelgeschichte… Das ist die Stimme der Demut, mit der die nichtjüdische Kirche auf ihr Überlegenheitsgefühlt verzichtet und sich selbst zusammen mit den messianisch-jüdischen Geschwistern im Ölbaum zu sehen wünscht.“
Eine Anmerkung des Rezensenten: Die Bewegung TJCII scheut sich nicht, auf Epheser 2, zu verweisen, wo herausgestellt wird, dass die Gemeinde Jesu aus einer jüdischen und einer nichtjüdischen „Abteilung“ besteht. Bedeutet dies in der Konsequenz nicht, dass die scharfe Unterscheidung zwischen Juden einerseits und Christen andererseits aus der Sicht des Neuen Bunds unhaltbar ist? Von dieser Unterscheidung abzurücken, wäre vermutlich belastend für den etablierten christlich-jüdischen Dialog, welcher bis heute die messianisch-jüdische Bewegung übergeht. Gehört aber zu einem Dialog nicht auch das Stehen zu dem, was zur Identität des einen Partners gehört, und ebenso das Aushalten desselben?
Tatai betont die paradoxale Existenz Israels und beruft sich dabei auf die vor allem auf Römer 9-11. Danach sind Angehörige des Volkes Israel „Geliebte um der Väter willen“ – auch dann, wenn sie an ihrem „Nein“ zur Messias-Würde Jesu festhalten. Andererseits urteilt Paulus: „…nicht alle sind Israeliten, die von Israel stammen.“ Einerseits formuliert Paulus einschränkend, dass die ausgebrochenen Zweige des edlen Ölbaums Israel wieder eingepfropft werden können, sofern sie nicht im Unglauben verharren. Andererseits stellt Paulus in Aussicht: „…und so wird ganz Israel gerettet werden.“
Eine heute von Bibellesern unterschiedlich beantwortete Frage lässt Tatai offen: Wird dieses Gerettet-Werden die Folge davon sein, dass der Messias Jesus sich seinem Volk sichtbar offenbaren wird? Oder ist – umgekehrt – die Hinwendung seines Volkes zu seinem Messias die Voraussetzung für sein sichtbares Kommen und Wiederkommen – getreu den Worten Jesu: „Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“?
Tatai schließt sein Werk mit einem „Fazit-Was sollen wir tun, Brüder?“ Darin benennt er Beispiele für das Aufnehmen und Umsetzen von neu gewonnenen Einsichten zum Verhältnis von Kirche und Israel: von den verschiedenen Fachrichtungen der Theologie bis zur Liturgie und Hymnologie, zur Homiletik, zum Religionsunterricht bis hin zur Seelsorge. So zitiert Tatai beispielsweise aus einer Praxishilfe für den Religionsunterricht eine herausfordernde Frage: „Wovon mag ein Jude träumen, wenn er an den christlichen Religionsunterricht denkt?“
verfasst von Martin Rösch