Das Gegenteil von Sünde
Als mehrheitlich Nicht-Messianische können die Mitarbeitenden im Echad-Verlag (Autoren, Lektoren, Herausgeber etc) nicht authentisch für die messianischen Juden und Geschwister sprechen. Wir geben es zu. Aber wir können doch ein Stück weit das machen, was ein Indianerstamm in seiner Bibelübersetzung für „Nachfolge“ gebrauchte: „In den Mokassins von jemandem gehen“. Die passen zwar nie ganz, aber es ist ein Versuch wert, und es hilft schon sehr viel weiter. Jedenfalls ist es ein demütigerer Gang als der in den „Highheels“ abendländischer Ersatztheologie.
Alle, die im Echad Verlag mitarbeiten, kennen viele messianischen Autoren, Lehrer und Gemeindeleiter. Von daher ist uns durch Beziehung vieles klar geworden, was durch blosses Hörensagen oder Textelesen nicht möglich gewesen wäre. Und wenn wir hier schon die Beziehungsebene ansprechen, so ist es gewiss genau dieser Bereich, der das Wesen des messianischen Verständnisses ausmacht.
Nehmen wir als Beispiel für einmal nicht Abraham. Oft genug ist gesagt und betont worden, dass Abraham eine intensive Beziehung mit Gott pflegte, er als der erste „messianische Gläubige“, der den Messias im Glauben kommen sah (Joh. 8,56). Picken wir dafür einen Satz von Paulus aus seinem berühmtesten Schriftstück heraus, dem Römerbrief. In Kap. 3,23 lesen wir: „Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“
Alle sind wir eben Sünder
Dieser Satz ist hoch interessant, und er ist für das Gottes- und Menschenverständnis auch brisant. Man hat ihn hierzulande eher statistisch betrachtet: „Alle sind eben Sünder, es gibt keine Ausnahme“, oder genetisch: „Die Erbsünde hat sich auf alle ausgewirkt“, ein dogmatisches Erbstück von Kirchenvater Augustin.
Aber der Satz endet nicht dort, wo er beginnt, sondern öffnet sofort die Perspektive auf das Verständnis von Sünde überhaupt. Und natürlich auch hier gibt es die westlich-moralischen Sündenvorstellungen, die wieder in seichte Gewässer führen: Sünde – das ist die Unzahl von Untaten. All das, was Menschen falsch gemacht haben, trennt sie von Gott, Kirche und ewigem Heil. Es kommt auf ihren Kopf zurück und wird sie ewig quälen (ein Glaubenssatz, den wiederum viele nicht teilen).
Was bleibt, ist Sünde als Moral. Was übersehen wird, ist die Tatsache, dass Moral (und damit verwandt Ethik) in der Schrift nicht ein einziges Mal vorkommt. Wir treffen aber, richtigerweise, auf einen altdeutschen Begriff.
Der Sünder als Sonderling
Er sondert sich ab. Deshalb sondert sich auch Gott von ihm (in gewisser Weise) ab. Wenn wir hören, was uns unser verpöntes, nicht mehr kanzelfähiges Wort „Sünde“ wirklich sagt, dann ist es nicht ein moralisches Defizit, sondern ein Zustand der Trennung. Einsamkeit schwingt mit, Isolation tönt durch. Der Sünder irrt durch Wüsten, wo niemand ist. Sein Herz hat sich in Angst und Abwehr, in Schmach und Scham zurückgezogen und abgehärtet. Auf einen Ruf antwortet er vor lauter Rückzugsmentalität nicht. Er ist aus seinem Refugium nicht herauszuholen.
Von der Moral
Dafür hat er aus der Not eine Tugend gemacht. Zum Beispiel, als die höchste aller Tugenden: Die Moral. Er ist im innersten Herzen einsam, kann aber als Helfer auftreten. Er kann spenden, Almosen geben und Hilfseinsätze machen. Das ist im nicht-messianischen Judentum, dem rabbinischen wie dem liberalen, nicht anders. Dass ein Werk ein „gutes Werk“ ist, bestätigt dabei die Einsamkeit des Ausführenden. Er hat es nicht empfangen, sondern gemacht. Er schöpft nicht aus einem Strom, sondern aus seinem Willen. Er gibt nicht weiter, sondern gibt. Das spürt man an den Lebensläufen (ich habe als Pfarrer über 300 Beerdigungen gemacht).
Abgesondert und isoliert
Die Entdeckung des „Individuums“ wurde als eine Errungenschaft der Aufklärung gepriesen. Aber dieses „Untrennbare“ (was der Begriff sagt) ist eben hochgradig abgetrennt, abgesondert und isoliert. Das Individuum ist in letzter Konsequenz der Sonderling, aus geistlicher Sicht ein komischer Kauz. Das Leben im Sinn von „Gemeinschaft“ ist verschüttet.
Das hebräische Denken hat den Begriff „Leben“ im Plural: „Chajim“! Leben gibt es nur in Gemeinschaft. Leben ist Gemeinschaft, und Gemeinschaft ist Leben. Hier könnte viel über die biblisch-hebräischen Grundbegriffe gesagt werden, sie haben sehr erstaunliche Beziehungsdimensionen, durchs Band weg.
Sünde ist – was uns fehlt
Der Vers von Paulus ist dann noch in einer weiteren Hinsicht ein Augenöffner: Sünde ist nicht in erster Linie das, was man Schlechtes tut (moralische Kategorien), sondern das, was man nicht tut, nicht hat und nicht ist. Das erstaunt auch nicht. Denn Isolation und Absonderung muss ja Mangel zur Folge haben, und wohl nicht nur auf einer einzigen Ebene. So kann man wahrscheinlich noch recht einfach vergeben, was ein Mensch an Untaten getan hat. Aber es wird schwieriger werden zu vergeben, was er alles nicht getan hat. Warum? Weil dies eine schier endlose Liste ist. Denn in jedem Zeitpunkt hätte ja aus diesem Menschenleben nach ursprünglichem Plan und paradiesischer Ausrüstung Gutes ausgehen sollen. Schon beim Denken hätte der Mensch geliebt, und zwar bei jedem Gedanken. Beim Reden sodann wäre es nicht anders gewesen, und allen diesen Worten wären auf selbstverständliche Weise Taten gefolgt.
Sünde ist – wer uns fehlt
Warum können wir sicher sein, dass die Sünde in Tat und Wahrheit die endlose Liste des Versäumten und Nicht-Vorhandenen ist? Weil Röm. 3,23 dies sagt: Es fehlt die „Doxa“. Wenn der Jude Saulus (griechisch Paulos) „Doxa“ sagt, dann meint er „Kavod“. In seiner Muttersprache ist dies die Herrlichkeit Gottes. Irgendwie kam diese Dimension beim Übersetzen unter die Räder, weil Luther ja kein Hebräisch kannte. Somit heisst der paulinische Satz: „Sie ermangeln der Herrlichkeit, die sie bei Gott haben sollten“. Die Herrlichkeit Gottes wohnte ursprünglich in seinen menschlichen Geschöpfen und erfüllte ihre Gedanken, Herzen, Sinne, Worte, Taten und Wege. Alles war Herrlichkeit. Jeder Augenblick. Und jeder Blick. Es war nicht zu vermeiden und nicht zu bremsen, dass die Herrlichkeit Gottes dem Adam und der Eva aus allen Poren kam.
Was wir verloren haben – den innewohnenden Gott
Und das ist die Sünde: Gott, den innewohnenden Gott, den ausstrahlenden Gott, den inspirierenden Gott, den bevollmächtigenden und verherrlichenden Gott (Joh. 17) aus dem Tempel hinausschmeissen, aus dem Körper, aus der irdischen Existenz. Und wenn man bedenkt, dass diese Herrlichkeit nicht eine Substanz war, wie etwa die Flüssigkeit (wenn sich jemand die Ausgiessung des Geistes so vorstellen will), sondern Gottes Gegenwart, die Gemeinschaft, Er in ihnen, sie in Ihm, dann kommt uns das Thema „Gemeinschaft“ noch viel mehr entgegen. Der ganze Aufbau der biblisch-hebräischen Welt, wenn man so will, ist personal. Alles fängt an mit Person, alles endet mit Person, alles wird überleuchtet von Person, alles zielt auf Personen. Die alles prägende Person ist Gott in seiner Herrlichkeit.
Die Wiederherstellung von Beziehungen – Heilung von Sünde
Darum wird messianisches Bibelauslegen immer in erster Linie die Wiederherstellung der Beziehungen zum Thema haben, was auch mit dem schon etwas abgeschliffenen Begriff „Schalom“ wiedergegeben wird. Einen andern Schwerpunkt wird ein geistgeleiteter Hebräer gar nicht wählen können.