Messianische Bibelauslegung

Der neue Mensch

von Thomas Wiesmann

So wie bei der Eheperson zwei Menschen – eine Frau und ein Mann – zu einer neuen Einheit werden, ist der neue Mensch nach Epheser 2,15 eine Einheit von zwei Menschengruppen mit unterschiedlicher Identität: Juden und Nichtjuden. Was sie verbindet ist ihr gemeinsamer Glaube an den Messias Israels. Die Trennwand ist abgebrochen. Dafür sind im Verlaufe der Kirchengeschichte neue Trennwände entstanden: die Trennwand zwischen messianischen Juden und Christen, welche glauben, die Juden enterbt zu haben (Ersatz- bzw. Erfüllungstheologie), und die Trennwand zwischen messianischen und orthodoxen Juden, welche den Messianischen – auf Grund eines Entscheids des israelischen Obersten Gerichts – die jüdische Volkszugehörigkeit absprechen. Die beiden neuen Trennwände sind tief im Boden verankert und es braucht riesige Wunder sie abzureissen.

Seitdem es – nach einem Unterbruch von 1700 Jahren – wieder messianisch-jüdische Gemeinden gibt ist das Thema des Neuen Menschen nach Epheser 2,15 wieder aktuell. Besonders die Bewegung „Toward Jerusalem Council II“ versucht bei den traditionellen Kirchen ein Verständnis für diese kleinen, aber heilsgeschichtlich bedeutenden Gemeinden zu wecken. Worum geht es?

Das Kommen des Messias brachte nicht nur die Erfüllung alttestamentlicher Prophetien und die Erlösung der Welt durch seinen Opfertod und die Auferstehung, sondern auch den Anfang einer weltweiten missi-onarischen Bewegung. Die Integration von Nichtjuden ins Reich Gottes bewirkte bei vielen Juden eine Identitätskrise. Bei der Bekehrung des Cornelius und seiner Familie in Apostelgeschichte 10 wird das deutlich. Es brauchte eine himmlische Vision und prophetische Ereignisse um Petrus von Joppe nach Cäsarea zu bewegen. Gross war der Widerstand, sich mit Nichtjuden einzulassen, auch wenn Cornelius „fromm und gottesfürchtig war mit seinem ganzen Haus, dem Volk viele Almosen gab und ohne Unterlass zu Gott betete“ (Apg. 10,2). Juden wollten sich durch den Kontakt mit Nichtjuden nicht kontaminieren. „Ihr wisst, dass es einem jüdischen Mann nicht erlaubt ist, mit einem Angehörigen eines anderen Volkes zu verkehren oder sich ihm zu nahen (Vers 28, auch Joh. 4,9). Das war die „Scheidewand des Zaunes“ und „die Feindschaft, das Gesetz der Gebote in Satzungen“ von denen Paulus in Eph,2,14-15 schrieb. Diese Scheidewand (Beschneidung und Reinheitsgesetze) wurde durch den Tod des Messias endgültig abgebrochen. Jüdische und nichtjüdische Gläubige können seither im Messias Gemeinschaft haben und den einen Gott anbeten. Beschneidung und Reinheitsgesetze sind für Nichtjuden nicht verbindlich.

Das geschah nicht ohne Kampf. Lukas schreibt in Apostelgeschichte 15 von einem“ Zwiespalt“, von einer „nicht geringen Auseinandersetzung“, von einer „Streitfrage“ (Vers 2), von einer „grossen Auseinandersetzung“ (Vers 7). Paulus und Barnabas mussten sich gegen die Brüder durchsetzen, die von den nichtjüdischen Gläubigen forderten: „Man muss sie beschneiden und ihnen gebieten, das Gesetz Moses zu halten“ (Vers 5 auch 1). Nach einer langen Auseinandersetzung wurde man sich einig, dass von nichtjüdischen Gläubigen nur gefordert wird, „dass sie sich von der Verunreinigung durch die Götzen, von der Unzucht, vom Erstickten und vom Blut enthalten sollten“ (Verse 20 und 29). Jetzt war die Türe für die nichtjüdischen Gläubigen endgültig geöffnet.

Kommt das Zeitalter der Kirche. Juden, die in Jesus ihren Messias erkannt haben mussten sich der Kirche unterordnen. Sie wurden gezwungen den jüdischen Traditionen insbesondere den Koschergesetzen abzusagen um getauft und in die Kirche aufgenommen zu werden. Die Kirche war der eine neue Mensch. Die Juden wurden sowieso gemäss Ersatztheologie (heute auch Erfüllungstheologie) durch die Kirche er-setzt. Sie hatten keine heilsgeschichtliche Bedeutung mehr. Zu untersuchen wäre, wie Eph. 2,15 im Verlauf der Kirchengeschichte interpretiert wurde. Als Geschichte? Als Aussage über die Einheit der Kirche?

In der Mitte des 20. Jahrhunderts tauchten plötzlich wieder messianisch-jüdische Gemeinden auf, in den USA, in Israel und an anderen Orten. Ohne jemanden zu fragen. Einfach auf Grund der Bibel und dem Drängen des Heiligen Geistes. Im Verlaufe der Jahrhunderte hat sich allerdings sehr viel verändert. Die Juden wurden entwurzelt und in der ganzen Welt herumgeschoben. Sie wurden verfolgt, vertrieben und umgebracht. Hauptsächlich durch die Kirche. Die Kirche hätte nach Römer 11,11 und14 die Juden zur Eifersucht reizen sollen. Statt dessen wurde das Kreuz bei den Folterungen als Anklagesymbol missbraucht. Welche Anmassung, welche Perversion, welcher Verrat des Evangeliums durch die Kirche.

Epheser 2,15 muss in unserer heutigen Situation neu interpretiert werden. Juden sind nicht mehr für alle Christen Gottesmörder. Sie werden von manchen anerkannt als erbberechtigte Nachkommen Abrahams, als Bundespartner Gottes. Die ursprüngliche „Scheidewand des Zaunes“ und „die Feindschaft, das Gesetz der Gebote und Satzungen“ ist nach wie vor abgebrochen. Aber zwei neue Scheidewände sind entstanden und sie gehen mitten durch die Kirche und das jüdische Volk.

Auf kirchlicher Seite ist es die Scheidewand zwischen denen, welche die Juden als „Geliebte um der Väter willen“ (Röm 11, 28) anerkennen und solchen, die überzeugt sind, dass die Juden keine heilsgeschichtliche Bedeutung mehr haben. Dazu gehören Theologen hauptsächlich aus traditionellen Kirchen und die „Christ at the Checkpoint“-Leute unter der Leitung des Bethlehem Bible College. Diese Scheidewand ist auch in der Schweiz in vielen Gemeinden spürbar trotz aller Beteuerung dass man nichts gegen Juden habe. (Man hat nichts gegen sie, man ignoriert sie einfach, im Gegensatz zu den internationalen Medien die nicht genug Negatives über Israel berichten können.) Der neue Mensch ist die Gemeinschaft von messianischen Juden und Nationenchristen, die ein ‚ja‘ haben zur Berufung Israels, zur verheissenen Rückkehr ins Land der Väter, die versuchen zu verstehen, was heute in Israel abläuft und die erkennen wie unglaublich schwierig es ist, im islamischen und antisemitischen internationalen Umfeld (das vergleichbar ist mit der Situation in den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts) einen Staat aufzubauen. Es ist in erster Linie Aufgabe der Israel-freundlichen Nationenchristen diese Scheidewand zu zerstören.

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