Messianische Bibelauslegung

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Biblisch-hebräisches Denken

von Paul Veraguth

Zum Buch
Was ist überhaupt „hebräisches Denken“? Dürfen wir unsere angewöhnten Denkweisen überhaupt in Frage stellen?  Wie unterstützt biblisch-hebräisches Denken unser Vertrauen zu Gott? Wie verwandelt es unser Weltbild? Der erste Teil des Buches stellt unser humanistische Erbe, unser „Schul-Denken“, unserem geistlichen Erbe gegenüber: „Gott ernst nehmen ist die Grundlage aller Weisheit“. Wenn sie diese zwei Optionen überdenken, werden einige Leser ihr humanistisches Erbe ohne Gewissensbisse ausschlagen. Im zweiten Teil erläutert der Autor ein Dutzend hebräische Grundwörter. Erstaunlich, wie weit wir mit ein paar Vokabeln wie „Amen“, „hebräisch“ oder „Jahwe“ schon kommen…

Keine Tagesnachrichten ohne das Thema Israel, keine (Frei)Kirche ohne ihre diesbezügliche Stellungnahme. Sich erhitzen, nützt nichts. Notwendig sind Hintergrundwissen, differenzierte Stellungsnahmen, Taten. Notwendig ist auch ein erneuertes Denken – das „biblisch-hebräische Denken“. Besonders bei Besuchen messianischer Gemeinden wird uns Westeuropäern (Paulus sagt pauschal „Griechen“) bewusst, dass es einen schlüssigeren Zugang zur Bibel gibt als unser analytisches Denken.

Die vorliegende Schrift hilft beim Frühlingsputz; ihn haben nicht nur unsere Häusern, sondern unsere Hirne von Zeit zu Zeit dringend nötig.

Leseprobe

Kapitel 1: Aufgewachsen in Denkmustern
Es beginnt mit der Muttermilch

Die Denkmuster unserer Familien übertragen sich auf uns, lange bevor wir sie durchschauen können. Ob in einer Familie Schweigen als Hilfsmittel der Konfliktlösung vorherrscht, spürt schon das Kleinkind. Ein Bodensatz ungelöster Spannungen und unausgesprochener Bedürfnisse schwimmt schon in der Muttermilch mit. Ob die Sorgen für morgen und übermorgen den Tag überschatten und ihn aller seiner Verheissungen und Möglichkeiten berauben, spürt das Kind, bevor es mit den ersten Sonnenstrahlen erwacht. Denn dieser Sorgendecke kann es sich nicht entziehen. Ob sich eintöniger, grauer, bedeutungsloser Alltag und geistige Ideale, Tagträumereien, utopische Lebensziele, hochgestochene Moral gegenüberstehen, ohne einander beeinflussen zu können, nimmt das Herz wahr, bevor das Hirn den Bruch diagnostizieren kann. Dass die Familienehre unter allen Umständen gegen aussen gewahrt sein muss und wie ein Gravitationsfeld alles anzieht, was sie mehrt, das wird zum Instinkt eines Kindes, bevor es bewusste Entscheidungen treffen kann. Ich würde sagen, sogar dieses Bessersein einer Sippe wird ein Bestandteil der Muttermilch. Ob sie sie auch süsser macht, ist im Nachhinein schwer zu sagen. Vergleichen können wir ohnehin kaum, weil wir in unserem Biotop aufgewachsen sind.
Wohl am nachhaltigsten prägen uns die Denkmuster, die direkt mit dem Wohlbefinden und der Geborgenheit, mit dem allgemeinen Lebensgefühl, zu tun haben. Wird Leistung mit Zuwendung belohnt, lieb sein mit Lob, Folgsamkeit mit Anerkennung und Anpassung mit dem familiären Wir-Gefühl, so verinnerlicht sich die Definition des Lebenswertes schon in frühesten Kindesjahren: „Ich komme zu Anerkennung durch das, was ich tue“. Anerkennung ist ein Resultat. Sie ist ein Lohn – mein Lohn! Darum kann ich sie auch unglücklich verspielen, wenn ich die Erwartungen nicht erfülle. Das Denken wird ungemein stark in diesem Grundsatz verankert: Alles, was ich tue, das tue ich für meine Wertvermehrung, die sich an erhaltener Anerkennung und Aufmerksamkeit misst.
Irgendeinmal tauchen wir am ersten Schultag vor der Lehrkraft auf. Vielleicht als solche, die im Notfall schweigen, oder solche, die bereits die Kunst des Sich-Sorgen-Machens gelernt haben. Oder wir haben die Träume und Ideale des Vaters angesichts des allzu menschlichen Alltags schon ein wenig verinnerlicht und sind selber zu Tagträumern und Idealisten geworden. Oder wir beginnen unsere Ehre bereits zu verteidigen. Die alles und noch viel mehr hat sich als Denkmuster eingeprägt, und die aufmerksame Lehrerin stellt fest: „Aha, diese Züge sind mir nicht ganz fremd, die Familie kenne ich schon von Geschwistern in früheren Schuljahren“. Und auch wenn der Schulbetrieb einige dieser Kanten sofort zu schleifen beginnt und ein paar scharfe Ecken privater Welten relativiert, kommen wir als junge Erdenbürger gleich wieder in neue Prägungen und Denkmuster hinein. Wenn wir nicht auf ein Ausnahmetalent unter den Lehrpersonen treffen, so wird das Leistungsprinzip auch wieder eine entscheidende Rolle spielen. Nun liegen aber noch Tausende Schultage vor uns, die Anschauungsmaterial bringen, uns Übungen und Gruppenspiele machen lassen, Zeit geben zur Vertiefung in Aufgabenstellungen, und wo wir ganz einfach lernen – zuhörend, lesend, schauend, ausprobierend. Und auch von diesem System sind wir so sehr ein Teil, dass wir uns kaum Rechenschaft darüber geben können, ob dessen Denkvoraussetzungen und Wertmuster denn die einzig möglichen sind.

Kinder von Plato und Aristoteles
Wir lernen Schritt für Schritt, eine Sache zu „analysieren“, und auch wieder Schritt für Schritt, Dinge zusammenzusetzen zu einem Ganzen, also eine „Synthese“ zu machen. Wir lernen „Probleme“ zu benennen und „Themen“ zu definieren. Schon beim „Alphabet“ haben wir ein griechisches Wort gebraucht, bei „Mathematik“ ein weiteres, und so geht es in einem fort. Man könnte nun von „Biologie“, „Geographie“, „Geometrie“, „Physik“, „Musik“ und allerhand „Techniken“ reden, alles Begriffe der alten Griechen, und dies an sich macht die Sache nicht verdächtig. Wir sind ja die Erben einer alten Kultur und, noch grundsätzlicher, Mitglieder der indogermanischen Sprachfamilie. Nicht ohne einen gewissen Stolz weisen wir darauf hin, dass das Bildungswesen Wurzeln hat, die bis zu den alten Griechen zurückreichen. Dies ist beachtlich. Aber, um gleich wieder ein griechisches Wort zu bemühen: Es ist auch eine „Hypothek“. Und, wie gesagt, eine, deren wir uns nicht bewusst sind – oder der Tragweite derselben wir uns nicht bewusst sind.
Das Hauptmerkmal, wenn wir es einmal so pauschal betrachten, ist die Teilung der Wirklichkeit. Darin waren die Griechen wahre Weltmeister, regelrechte Olympioniken. Sie entwarfen Betrachtungsweisen, die es erlaubten, die gesamte Wirklichkeit aufzuspalten in eine sichtbare Welt, die sie vergänglich nannten, und eine unsichtbare, die immer da ist und auch bleibt. Zur sichtbaren Welt gehört alles Physische. Man kann es überbewerten oder unterbewerten, Schönheitskulte pflegen oder die äussere Erscheinung vernachlässigen – das alles gab es schon bei den Griechen, wobei sie den Akzent auf das Schöne legten, ein Abbild (aber nicht mehr als das) der „Ewigen Welt der Ideen und Seelen“. Es bleibt dabei: Was vor Augen ist, ist Schein, und der Schein trügt, auch wenn er gerade daran ist, hell zu scheinen. Demgegenüber, narrensicher und absolut, gab und gibt es für Griechischdenkende das Sein, das nie vergeht. Dazu gehört neben unserer Seele, unserem Denken und seinen Ideen, auch jeder tiefere Sinn, die Wahrheit, die „Moral von der Geschichte“, und je nachdem sogar eine Götterwelt.
Das Erbe der Griechen ist unser eigenes geworden. Wir sind in eine dualistische Welt hineingeboren. Und ich betone: Neben den Prägungen und Formen unseres Denkens, die wir von Kindsbeinen an, von zuhause mit auf den Weg genommen haben, sind wir durch eine Schule, eine Denk-Schule gegangen, die uns den Dualismus einverleibte. Massgeschneidert aufs zwanzigste und einundzwanzigste Jahrhundert. Wir unterscheiden grundsätzlich zwischen Form und Inhalt, zwischen einer Sache und ihrem Sinn, zwischen einer Geschichte und ihrer Moral, zwischen Physik und Metaphysik, zwischen vergänglichem Körper und unsterblicher Seele, zwischen Materie und Geist. Nicht einmal von der Kirche hat man den Dualismus fernhalten können: Da gibt es Vorstellungen von einem ungeschichtlichen Reich Gottes, von einem unjüdischen Jesus, von einem Evangelium, das sich aus Theologie entwickelt hat, und eben auch, doch jetzt christlich getauft, von der unsterblichen Seele. Das ist Dualismus pur! Denn selbst wo ein personaler und erst recht ein persönlicher Gott geleugnet wird, dürfen immer noch höhere Kräfte und anonyme Energien wirken.

Renaissance: Die Griechen erwachen wieder zum Leben
Es hätte nicht so kommen müssen. Die gesamte westliche Kirche war zwar bis zur Reformation römisch geprägt, doch die Römer waren nicht nur ein eisernes Reich der militärischen Stärke und rigorosen Verwaltung, sondern auch ein Nachahmervolk der viel kreativeren Griechen. Die Griechen, obschon schliesslich besiegt (146 v. Chr. fiel schliesslich auch Korinth), wurden von den Römern als eine Art älterer Bruder wahrgenommen, und ihr Erbe wurde integriert. Auch das Römische Reich begann zu bröckeln, deutlich ab dem vierten und fünften Jahrhundert, löste sich zwar nie ganz auf, ging aber, einmal abgesehen von der politischen Entscheidung Konstantins (Kaiser von 306 bis 337), schleichend ins Christentum über, wenn man dies einmal ungeschützt so ausdrücken darf. Genauso „schleichend“ vermischte sich das Reich der Römer mit seinen einstigen Feinden, zum Beispiel den Germanen und Kelten. Die germanischen und keltischen Vorstellungen spielten übrigens in die Ausprägung des Christentums nördlich der Alpen hinein, wo sich Missionare mit germanischen Fürsten und keltischen Druiden arrangieren mussten.
In der Neuzeit, beginnend im Vorfeld der Reformation, mussten die Feudalherren ihre Macht mit einer neuen Bevölkerungsgruppe, dem aufsteigenden Bürgertum, mehr und mehr teilen; die Welt teilte sich nicht mehr in Adlige und Untertanen auf: Es gab jetzt die „dritte Kraft“. Damit begann sich auch eine geistige Selbständigkeit zu regen. Diese wirkte in der Kirche auf eine grosse geistesgeschichtliche Befreiung hin, die Reformation. Aber es ist nicht zu übersehen, dass auch neben dem kirchlichen Bereich dieselbe Eigenständigkeit erwachte. Wissenschaftler liessen sich nicht mehr durch kirchliche Dogmen vorschreiben, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Man griff auf die alten Vorbilder und den einstigen grenzenlosen Forschungsdrang der Griechen zurück und nannte darum die Bewegung „Renaissance“, also geistige Wiedergeburt. Gemeint war ein Wiederaufleben alter Vorstellungen, Werte und Formen geistiger Tätigkeit. Um die Wende hin zur vorchristlichen Kultur zu unterstreichen, wandte sich die Renaissance von der kirchlichen Architektur ab und suchte wieder die griechischen Bauwerke zu kopieren.
Weil die aufstrebende Garde von freien Bürgern, Unternehmern und Wissenschaftlern – dann auch von Dichtern und Denkern und überhaupt Künstlern bis hin zu Staatsmännern – die Kirche als inhuman (unmenschlich) empfunden hatte, nämlich als ein Joch über jedem freien Menschenleben, nannte sich die Bewegung auch „Humanismus“. Der Homo, der Mensch also, wurde zum Mass aller Dinge und der Moral, der Erkenntnis und der Kultur. Diese Geistesbewegung, die sich wie eine Erweckung feierte und tatsächlich vieles, das muss man zugeben, mit dem Evangelium gemeinsam hatte, orientierte sich an Vaterfiguren wie Erasmus von Rotterdam. Er, in Basel lebend und auch viel Einfluss auf Zwingli ausübend, hatte die alten Sprachen unserer christlichen Kultur, nämlich Griechisch und Hebräisch, wieder in den Fokus gerückt. Dies ist ein Punkt, bei dem wir ihm viel zu verdanken haben. Doch auch hier wieder, in einem schleichenden Prozess, wie sich einst die Kirche des römischen Imperiums bemächtigt hatte, bemächtigte sich jetzt der griechische Geist in ausgeprägter Weise des Abendlandes.

Die Geburtswehen des emanzipierten Denkens
Deshalb sprechen wir auch vom griechisch-humanistischen Denken. Es grenzte sich im Zeitraum zwischen Reformation und Aufklärung noch nicht scharf vom jüdisch-christlichen Denken ab, doch es verstärkte seinen Einfluss gewaltig, der bereits begonnen hatte, als die Kirchenväter der ersten Jahrhunderte (Irenäus von Lyon, Origenes von Alexandria, Ignatius von Antiochien, später der berühmte Augustinus) mit den griechischen Philosophen liebäugelten. Die zunehmende Verwurzelung im heidnischen Denken brachte letzten Endes unvermeidbar die entsprechenden Früchte hervor. Das griechische Denken kommt in seinem Kern nicht vom dualistischen Denkmuster weg und betrachtet die Überwindung seines Dualismus auch nicht als erstrebenswert. Die genannten Früchte manifestierten sich sehr anschaulich und wirksam in der Aufklärung (ab 1650), wie wir sehen werden, wo der Menschengeist praktisch zum Schiedsrichter über die Gottesfrage und die wissenschaftlichen Kriterien wurde. Der geistesgeschichtliche Schritt konnte für die Geschichte nicht folgenlos bleiben: Er setzte sich in der Französischen Revolution (1789-99) fort. Diese emanzipatorische Entwicklung führte zur Loslösung der Forschung und der Pädagogik von allem und jedem kirchlichen Dogmatismus. Autonom, so hiess es, sei das Denken des Menschen, und anders könne Denken gar nicht sein. Ja gerade das freie Denken wie nichts anderes im Menschen zeige ihm, dass der Mensch „er selber“ sei. Die Formel von René Descartes (1596-1650): „Ich denke, also bin ich“ (cogito ergo sum) wurde zum menschlichen Gegenstück der Gottesoffenbarung: „Ich bin, der ich bin“.
Auf diese Weise kann der Mensch seine Identität in sich selber, genau genommen in seinem eigenen Denken begründen. Seit dem Paukenschlag der Aufklärung und ihrer philosophischen Kampfschriften steht der Mensch auf seiner eigenen Bühne und in seinem eigenen Rampenlicht. „Aufklärung“: In seinem Denkapparat „klart es endlich auf“, und wie eine Glühbirne erhellt neuartiges, transparentes, unverdunkeltes Denken den ganzen Lampenschirm des Menschseins und seiner Kultur ringsum. Alles wurde erklärbar. Wenn etwas unerklärbar sein sollte, so konnte es Diderot in seiner neuartigen „Enzyklopädie“ (ab 1750) zur Fussnote degradieren. Unter „Gott“ fand der Leser den Hinweis „siehe Glaube“. Schlug er unter „Glaube“ auf, so fand er den Hinweis „siehe Aberglaube“, und dann wurde alles ganz einfach: Volksbräuche und Rituale liessen sich problemlos im Lexikon auflisten. Allerdings: So ganz unbeschadet kann sich eine Kultur nicht um die Ewigkeit herummogeln. Ein altes Erbe blieb diesem ambitiösen Denken erhalten. Es ist die widersprüchliche Wirklichkeit von Leben und Tod, von Forschung und Krankheit, von „Liberté, Egalité, Fraternité“ und neuen furchtbaren Kriegen, die Europa überzogen.
Aber der freie Geist hat die Möglichkeit, alle Mühsal des Lebens zu analysieren, zu relativieren, zu verharmlosen und zu verdrängen. Er kann auch Besserung und „Entwicklung“ prognostizieren, gestützt auf die Wandelbarkeit und Lernfähigkeit ebendieses menschlichen Geistes. Unnötig zu sagen, dass der Gedanke der menschlichen Entwicklungsfähigkeit zwei Jahrhunderte nach der Morgendämmerung der Aufklärung mit der Evolutionstheorie einen neuen Quantensprung machte: Unter dem Titel „On the Origin of Species“ (1859) verbreitete sich Darwins Lehre wie ein Steppenbrand im Sturmwind. Jetzt erst recht war alles Materielle samt seinen Entwicklungen in sich selber und durch sich selber erklärbar geworden. Selbst der Geist war aus den primitiven Vorstufen des Menschen „entstanden“. Jahrhundert um Jahrhundert, Jahrtausend um Jahrtausend war er eigenständiger geworden und kam jetzt bei seinem Höhepunkt als selbständige „Institution“ im Menschen an. Wer von einem Geist ausging, den es über den Menschen oder über den Wolken gab, gehörte schon bald zur Welt der Idealisten, religiösen Leute oder weltfremden Spinner.
Die Theologie: Kondensation der flüchtigen Gottesidee
Die abendländische Theologie war im Allgemeinen bemüht, geistesgeschichtliche Strömungen zu verinnerlichen und sich mit ihnen zu vereinigen. Auch bei der aufklärerischen Entwicklung ihres Umfeldes hat sie zu profitieren versucht. Sie begann unter dem Namen und Label der sogenannten „historisch-kritischen Auslegung“ (volkstümlich: „Bibelkritik“) ein evolutionistisches Geschichtsbild zu entwerfen und dieses in allen Fasern und Einzelheiten nachzuzeichnen. Und so ging das Argument: Die Theologen zur Zeit der Niederschrift alttestamentlicher Texte (zum Beispiel einflussreiche Priester) definierten auf dem Boden von Israels geschichtlichen Erfahrungen einen historischen Kristallisationskern für die flüchtige Idee von Gott. Solche besonderen Erfahrungen wurden zu einer Art Gottes-Event. Wie sich unsichtbare, überall verteilte Wassermoleküle um die Russpartikel eines Jets kristallisieren und als Wasserdampf (Kondensstreifen) in Erscheinung treten, so ist es auch mit der Idee eines unsichtbaren Gottes. Ein Ereignis kann ihn sichtbar machen. Gott kondensiert. Jene „Russpartikel“, die wir zum Vergleich herbeiziehen, können Tragödien (Gerichte), glückliche Wendepunkte (Rettungen) oder einfach gemeinschaftstiftende Erlebnisse sein. Bekanntlich kommen im Leben von Einzelnen und von Völkern solche Ereignisse dann und wann vor.
Nehmen wir ein Beispiel: Ein paar hebräische Sklaven können den Soldaten des ägyptischen Herrenvolkes entfliehen, indem sie sich auf die andere Seite eine Schilflagune retten. Die Wagen des Heeres kommen hier nicht weiter, vielleicht ertrinken sogar ein paar Schwerbewaffnete (ein Szenario, wie es die Inner- und Urschweizer gegenüber den gerüsteten Rittern aus Österreich gut kannten). Das ist für die entkommenen Hebräer nun der Anfang einer neuen Geschichte; es ist das Initiationserlebnis von Freiheit. Diese Geschichte ist zwar nicht ein Wunder, aber doch eine glückliche Fügung. Den entflohenen Sklaven erscheint es indessen wie ein Wunder. Und wirklich, sie können das Ereignis mit ihrer alten Gottesidee verbinden. Ihr Gott ist genau hier erfahrbar geworden. Er ist in seinem Format sogar gewachsen. Und so ist auch der Glaube gewachsen.
Aufgepfropft auf diese glückliche Erfahrung entlaufener Sklaven wurde im Nachgang also eine Erweiterung ihrer anfänglichen, primitiven und ungehobelten Gottesidee: „Voilà! Das ist Jahwe! So ist Jahwe!“ Derselbe Hirtengott Jahwe, mit dem früher einmal die Nomaden Abraham, Isaak und Jakob unterwegs waren. Ist er jetzt nicht auch unser Rettergott? Und zweitens: Ist durch dieses Ereignis nicht auch bewiesen, dass dieser Gott sogar Herr über die Ägypter ist, also ein Gott über alle Völker und ein Herr über alle Welt? Und drittens: Ist nicht auch klar, dass er uns, die Hebräer, erwählt hat? Warum hätte er sie sonst vor den stärkeren Ägyptern retten sollen? Jahwe, der alte Nomadengott, ist nun aus der Taufe gehoben als ein Gott aller Welt, und er hat die Hebräer für besondere Zwecke erwählt: Die Geschichte an der Schilflagune hat es allen vor Augen geführt. Auf diese Weise, so die historisch-kritische Theologie, wurde der Jahwe-Glaube populär, obwohl er vorher nur der Glaube einer Splittergruppe von Hebräern gewesen war.

Die Evolution vom Hirtengott zum Welterlöser
Das ist nur ein kleiner, aber ein beispielhafter Ausschnitt aus der „Gottes-Evolution“, die das spätere Volk Israel seinen Priestern und Gelehrten verdankte. So jedenfalls sagt es die Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts. Nach und nach entstand ein ganzer Kondensstreifen über dem Himmel des Nahen Ostens, der von Ägypten bis nach Kanaan reichte. Dank der geistigen Arbeit der Elite Israels konnte das Volk jetzt überall im Geschehen Jahwe erkennen, einen Gott, der den Amun Ägyptens, den Marduk Babels oder den Dagon des Philisterlandes bei weitem übertraf und der dem Volk dieses besondere Erwählungsbewusstsein verlieh. Wahrscheinlich erst jetzt entstand aus einem Patchwork geflohener Stämme und entronnener Sklaven die Identität eines geeinten Volkes, etwas Eidgenössisches. Die Berufung durch Jahwe war die Klammer, die alle zusammenhielt, und die überragende Autorität und Qualität dieses Jahwe machte die Festigkeit dieser Klammer aus. Diese zwei entstanden zeitgleich: Der einzigartige Gott und das erwählte Volk. Aber nochmals: Wann kam es zu dieser Interpretation und Revision der Geschichte?

Erst nach der Aufklärung stellten die Theologen die Geschichte von Israel mit seinem Jahwegott derart dar (natürlich noch viel komplexer und komplizierter; es gab ja auch Elohim, die andere Gottesvorstellung, die man unter denselben Hut bringen musste). Gemäss ihrem Konzept war die Gottesidee also wachstümlich: Erst im Verlauf von vielen Generationen Israels nahm sie immer grössere Ausmasse und differenziertere Formen an. Geformt, erweitert und differenziert wurde die Gottesidee nicht nur durch den schon erwähnten Erwählungsgedanken oder den Universalismus (d. h. Gott ist nicht nur regional) und damit verbunden durch den Monotheismus. Auch Faktoren wie Patriarchat, Patriotismus, Humanisierung der Opferpraxis, Rechte für Benachteiligte trugen entscheidend zum neuen Profil von Jahwe bei. So entstand eine ganz unerwartete geistige Welt, eine Welt von ausgeklügelten Gottesvorstellungen – Theologie eben!
Genau diesen Vorgang haben wir an einem simplen Beispiel illustriert: Das denkwürdige Bewahrungserlebnis eines flüchtenden Sklavenhaufens wurde nach dem Ereignis über Jahrhunderte hin weiter ausformuliert, mit Vorstellungen angereichert, durch Einzelheiten ausgeschmückt, bis am Ende die Narrative (ein „Erzählprodukt“) des Auszugs aus Ägypten und der Rettung am Schilfmeer entstanden war. Ein glühendes Zeugnis von Patriotismus, ein glänzendes Beispiel von Glauben an einen identitätsstiftenden Gott. Und nicht nur das: Dieses „Narrativ“ diente sogar Jesus Christus als Sprungbrett für eine neue Bedeutung von Freiheit. Hat er nicht beim Passa auf die Vätergeschichte zurückgegriffen? Hat er nicht anlässlich des Sedermahls den so genannten „Erlösungsbecher“ neu gedeutet, nicht mehr nur zugunsten seines Volkes, seiner Brüder und Schwestern, der Juden, sondern für die ganze Welt? Hat er nicht dadurch Jahwe zum Gott der ganzen Welt erklärt, für Zeit und Ewigkeit? Die Theologen haben bei ihrer Fahrt durch die abgründigen Gewässer der Geschichtskonstruktion auch den Kapitän selber an Bord geholt. Verstand er sich aber als Schriftgelehrten? Als Theologen? Nein.

Man darf nun aber nicht vergessen: Solches Phantasieren, Ausschmücken und Umbiegen haben Theologen erst nach der Aufklärung ihren Vorgängern angedichtet und in die Schuhe geschoben. Weil sie als „aufgeklärte Geister“ dem Evolutionsgedanken verfallen waren, meinten sie, die Priester zur Zeit des Exodus hätten auch nach dem Schema gedacht: „Von primitiv zu hochgeistig“. Weil sie der Schrift als einem Zeugnis misstrauten, machten sie die damaligen Zeugen zu Mythenerzählern. Weil sie nicht an Wunder glauben konnten (Wunderglaube war mit der Aufklärung abgeschrieben), schoben sie ihren Unglauben auf die Vorgänger ihrer Gewerkschaft ab, auf die Priester und Schriftgelehrten. Sinngemäss behaupteten sie über das Wirken ihrer Vorgänger: „Unsere Aufgabe ist es nur, zu erklären, warum, wie und was jene Gelehrten damals theologisiert und philosophiert haben. Denn mittlerweile wissen wir, dass Religion so funktioniert – wir haben diese Vorgänge religionswissenschaftlich analysiert. Die Verantwortung für solche religionsgeschichtlichen Vorgänge müssen und können wir nicht übernehmen.“ In jedem Werk der historisch-kritischen Theologie findet sich zwischen den Zeilen dieser Disclaimer.

Um den Sack nun zuzubinden: Das ist Dualismus in seiner ausgefeilten Form: Das eine ist, was de facto auf Erden geschieht, das andere, wie man sich einen Himmel vorstellt, einen Gott, eine Berufung, ein Ziel aller Geschichte: zwei Paar Schuhe also. Deshalb stört es den Dualisten nicht, dass es Mythen gibt. Sie sind die Essenz des Lebens, sie sind die Metaphern der Wirklichkeit, sie sind die Würze des Alltags, sie sind der Leit-Stern am Himmel, ohne historisch wahr sein zu müssen. Die Wirklichkeit zerfällt in Geschichte und Deutung. Die real existierende Geschichte gibt nur ein vages Gleichnis für einen höheren Sinn ab – mehr kann man von ihr nicht erwarten. Mehr soll und muss man auch nicht. Denn auf Erden wird nur mit Wasser gekocht. Den Himmel darf man sich dann ruhig anders vorstellen. In aller Freiheit. Doch eine Frage bleibt: Wer das Erfinden von Geschichten zur Tugend der Theologie macht und es damit sanktioniert, der macht die Theologie zum Lügengebilde. Wie sehr er sich dann auch bemüht, genau das Gegenteil zu behaupten und dies alles als „Wahrheit“ darzustellen – am Ende steht er selber als Lügner da. Denn der Dualismus, der die Wirklichkeiten trennt, ist ein fruchtbares Biotop für Inkonsistenzen und Lügen aller Art.

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